Anders, als es im Architekturstudium üblich ist, besteht meine Abschlussarbeit aus einer schriftlichen Auseinandersetzung. Pathos Backstein, wie der Titel der Masterthesis lautet, war ein Gefühl, das mich und auch meine Kommilitonen im Studium begleitet hat und dessen Ursprung ich näher ergründen wollte. Doch wie kann man einem Eindruck entlocken, woher er stammt? Dazu musste ein Weg gefunden werden, der Jenseits des Gefühlten Fakten ermitteln und auswerten kann. Die Arbeit setzt sich mit der „Entwicklung von Lehre und Rezeption sichtbaren Backsteinmauerwerks“ im deutschsprachigen Raum der letzten drei Jahrhunderte auseinander und versucht die Bereiche zwischen Architekturlehrbüchern, gebauten Beispielen und der Wahrnehmung von Backsteingebäuden zu verknüpfen. Damit eröffnete sich ein Forschungsweg, der so schnell nicht abgeschlossen sein wird und mir die Ehre einbrachte, beim Fritz-Höger-Preis für Backsteinarchitektur 2020 in der Kategorie Newcomer eine Auszeichnung zu erhalten. Damit wurde erstmals in der Geschichte des Preises eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Material Backstein prämiert.
Warum empfinden wir Backsteinbauten als besonders schön?
Die Ausgangslage einer solchen Untersuchung bildet die Feststellung, dass sowohl Fachleute, als auch Laien mit dem Material Backstein meist etwas Positives verbinden. Demnach kann der Ursprung des Pathos nicht nur in der gelehrten und gelernten Auffassung zum Material, sondern muss auch in der Qualität der individuell erlebten Gebäude liegen und kann ganz unterschiedlich ausfallen. So können Backsteinbauten Gefühle und Erinnerungen an Heimat, an Handwerk und an gute alte Zeiten auslösen. Ebenso kann aber auch die Faszination durch die Haptik beeinflusst werden. In dieser Hinsicht schmeichelt der Ziegel unseren Sinnen als einzelnes Element und ebenso in der Fläche. Neben den individuellen Erfahrungen emotionaler Natur spielt das Erlernen eines genaueren Blicks eine große Rolle für das Verständnis des Potentials eines solchen Materials.
Gestaltungsvielfalt von Mauerwerksflächen: Der Backstein in unterschiedlichen Positionen und Ausführungen
Wie lernt man das „Sehen“ in der Architektur?
Architekten sehen Raum anders, als Laien. So lautet das Ergebnis einer Pionierstudie an der TU Dortmund aus dem Jahre 2017, in die Wahrnehmung Studierender und Lehrender der eigenen Fakultät im Vergleich zu Probanden anderer Fachrichtungen untersucht wurde. Mit diesem Wissen muss also ergründet werden, inwiefern der Blick geschult oder gelenkt werden kann. Dazu dient der menschlichen Natur die Übung. Diese Übung bedarf einer Abwechslung und Vielfalt, um keine kurzweilige Beschäftigung zu bleiben. An diesem Punkt spielt der Backstein als Material seine Stärken aus: Vom tragenden Konstruktionsmaterial bis zur ästhetischen Bekleidung zeigt sich das Material in schier unendlichen Facetten.
Ruhe und Unruhe im Blickfeld
Beschäftigt man sich mit der Baukunst, so trifft man früher oder später auf den Aphorismus „Architektur ist gefrorene Musik“ – eine Phrase der philosophischen Konzeptionen des 19. Jahrhunderts, die sich als Metapher auf viele phänomenologische Erscheinungen anwenden lässt. Vor allem die Fläche der Backsteinwand lässt jeder Fantasie freien Spielraum für das Verständnis der Bedeutungstiefe jenes Ausspruchs. Wir denken an das Fugennetz der Wand, die die Summe aus allen einzelnen Elementen innerhalb der eigenen Logik ist. Jeder Verband bietet also eigene Regeln für die Gestaltung, eigene Möglichkeiten für die Abweichung vom Vorgegebenen und somit individuelle Unruhe im Einzelnen trotz der Ruhe in der Gesamtheit. Für die Wahrnehmung spielt dieser Faktor der Unruhe eine bedeutende Rolle: Begreifen wir die Fläche zu schnell wirkt sie oftmals langweilig, zu langsam und wir empfinden sie als unruhig und störend aufdringlich. Die Auslotung der richtigen Menge an „Störung“ innerhalb des Systems kann also als Aufgabe des Planers angesehen werden. Wie funktioniert die Ecke, wie der Abschluss, wie der Übergang zur Öffnung und wie die Fläche, die in der Fassade übrig bleibt? Das versuchen wir ganz unbewusst und im Bruchteil einer Sekunde zu verarbeiten und zu verstehen. Hier liegt ein Teil des Geheimnisses, das den Pathos Backstein ausmacht.
Rolle der Ausbildung und Vor-Bilder
Welche Vorbilder die Ausbildung nutzt prägt das Verhalten der zukünftigen Architekten. Nicht umsonst entstanden die modernen Architekturlehrbücher aus den sogenannten Vorlagenbüchern des 19. Jahrhunderts. Schon damals stellte man fest, dass das visuell Erlebte und dann selbstständig Reproduzierte einprägsamer ist, als theoretische und mit Worten beschriebene Baukunst. Die Lehre fokussierte, anders als es heute Usus zu sein scheint, weniger die technischen Randbedingungen eines Materials, als vielmehr vorbildhafte Beispiele der Baukunst. Das Selbstverständnis, dass mit der Beschäftigung mit guten realisierten Bauten unabhängig vom Diskurs über Geschmack oder Stil die Erkenntnis der richtigen Konstruktion parenthetisch erlangt werden muss, ist zurückgegangen. Die im wahrsten Sinne zeitlosen, weil die Zeit überdauernden und Generationen übergreifenden Backsteinbauten sind es, die das Potential des Materials aufzeigen. Dass davon selbst im eigenen Umfeld viele bedeutende und zunächst unauffällige Beispiele existieren, beweist die Buchreihe „Fragments of Metropolis“, die spannende und außergewöhnliche Bauten einer Epoche aufzeigt, die von Aufbruch und Fortschritt zeugt.
Potenzial des Backsteins
Das Potential des Backsteins muss wiederentdeckt werden, so die These meiner Abschlussarbeit. Das beinhaltet die bekannte Gestaltungsvielfalt aber auch die Aktivierung des technisch Möglichen. Es darf in der Architekturdebatte nicht vordergründig um Wirtschaftlichkeit im ökonomischen Sinn gehen, denn wie viel nachhaltiger ist eine Architektur, die die errechnete Lebenszeit überdauert und womöglich noch in Jahrzehnten eine Umnutzung und damit den Erhalt der Baumasse ermöglicht? Dazu bedarf es einer Neubewertung der Gesetzesvorgaben im Bauwesen ebenso wie einer Rückbesinnung auf langhaltige Konstruktionsweisen, die wir mit dem Material Backstein ermöglichen können
Bildrechte: David J. Wilk
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