Beständige, funktionale und zum Ort passende Bauten charakterisieren die Architektur von Jan Peter Wingender, Mitgründer des Amsterdamer Büros Office Winhov. Im Interview spricht der Architekt, Hochschuldozent und Buchautor über Materialdenken, Veränderungen und Trends in der niederländischen Baukultur sowie seinen besonderen Bezug zum Baustoff Klinker.
Herr Wingender, wie würden Sie Ihre Architektur beschreiben?
Jan Peter Wingender: In unserem Büro interessieren wir uns besonders für gewöhnliche Gebäude. Die Stadt ist auf Grundlage solcher Bauten geschaffen. Wir verstehen darunter Architektur, die sich nicht in den Vordergrund drängt, sondern sich mit dem städtebaulichen Kontext auseinandersetzt und in das Stadtgefüge integriert. Häufig werden solche Objekte fälschlicherweise als normal oder sogar banal eingestuft. Jedoch sind sie nicht einfach zu entwickeln. Hinter ihrer vermeintlichen Gewöhnlichkeit steckt eine Raffinesse, die ihnen schließlich einen Sinn verleiht. Sorgfältige Studien des Ortes und eine starke formale, materielle Präsenz charakterisieren unsere Designs.
An welchen Leitbildern orientieren sich Ihre Entwürfe?
Jan Peter Wingender: Ich glaube, der eigentliche Wert von Architektur und Bauen ist der, etwas zu schaffen, das über Jahrzehnte und Jahrhunderte erhalten bleibt. Unsere Städte benötigen Gebäude, die sich langfristig bewähren und zu einem untrennbaren Teil ihrer Umgebung werden. Das bedeutet auch, dass sie im Laufe der Zeit an Bedeutung gewinnen, weil wir sie brauchen und uns immer mehr zu eigen machen, wie einen Alltagsgegenstand. Erst wenn wir die Räume nutzen, fällt uns auf, wie besonders sie eigentlich sind. Am besten kann man das mit einem guten Messer oder einem hochwertigen Topf vergleichen: Tagtäglich machen sie das Leben leichter und besitzen dabei ihren eigenen Wert und ihre eigene Schönheit. Ebenso ist unsere Architektur: Sie ist elegant, robust und vor allem nützlich. Das ist die Essenz unserer Arbeiten.
Sie engagieren sich in der architektonischen Lehre und haben europaweit an Universitäten unterrichtet. Was geben Sie Ihren Studenten mit auf den Weg?
Jan Peter Wingender: Ich komme aus einer Generation in Holland, in der das Image von Architektur stark vom Superdutch geprägt war, das für eine sehr programmatische Herangehensweise steht. Oftmals war die Frage der Materialisierung nicht entwickelt oder einfach schlecht. Heute lassen wir unsere Studenten gerne mit Materialien experimentieren und spielen. So haben wir es auch mit Klinker gemacht. Durch das instinktive und intuitive Verständnis des Baustoffs werden genau durchdachte Ideen und Designs generiert, die in einem gewöhnlichen Entstehungsprozess nie so ausgereift sein könnten. Ich sehe, dass meine Studenten architektonische Lösungen und Ideen bringen, die wirklich neu sind und einen weiteren Schritt machen. Die Architekten Alison und Peter Smithson nannten dies „Designing By The Thinking Of The Making“. Das ist ein extrem schöner Satz. Ich habe immer gedacht: Das ist es, was es braucht. In Zeiten von Renderings und digitalen Visualisierungen, die das Image von Architektur maßgeblich dominieren, empfinde ich diese Art zu arbeiten wichtiger als jemals zuvor. Das Denken in einem Material ist es, was ich meinen Studenten mitgebe.
Hat sich die Auseinandersetzung der jüngeren Generation mit Architektur und Materialität verändert? Und wenn ja, inwiefern?
Jan Peter Wingender: Der Einfluss, den die digitale Welt auf Architektur nimmt, ist nicht zu unterschätzen. Leider wird Klinker dadurch oft nur eine Option als Oberfläche in einem Rendering. In einer digitalen Welt kann er ohne Konsequenzen durch jedes andere Material ersetzt werden. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn ein Student ein super Rendering macht und sich in der allerletzten Sekunde erst für eine Textur entscheidet. Dann ist es wirklich kein Baustoff mehr, sondern einfach nur ein Pixel. Aber Architektur ist nicht das Aufstocken von Pixeln, sondern das Aufstocken von Material. Für die jüngere Generation ist es schwieriger denn je, eine Brücke zwischen digitalem Design und materiellem, realen Denken zu schlagen. Gleichzeitig mag ich aber die Freiheit, die die Studenten heute im Bezug auf die Materialität haben. Ihre Freude am Entdecken dekorativer Möglichkeiten empfinde ich als Inspiration.
Welche Bedeutung hat Klinker für Ihre Architektur?
Jan Peter Wingender: Für mich ist Klinker als verbindendes Material extrem interessant. Er besitzt die Fähigkeit, einen starken Bezug zwischen einem Neubau und dem bestehenden Umfeld herzustellen. Er hilft, das Gebäude in einen Kontext zu setzen. Gleichzeitig bietet er enorme Möglichkeiten, sich auch mit aktuellen Themen der Architektur auseinanderzusetzen. Durch die Gestaltung des Mauerwerks mit Texturen, Verbänden, Reliefs und Farben wird der Ausdruck eines Bauwerks besonders verfeinert. Daraus kann eine sehr einzigartige Architektur entstehen. Ich glaube, dass nur wenige Materialien diese Eigenschaft haben. Letztendlich ist Klinker aber auch ein forderndes, disziplinierendes Material. Man muss seine Ideen verschärfen und sie den speziellen Anforderungen des Baustoffs anpassen. Klinker ist beständig und man kann eine Menge mit ihm machen. Jedoch muss man dabei stets der spezifischen Logik des Materials folgen. Während unserer täglichen Arbeit macht gerade diese Herausforderung viel Freude.

Jan Peter Wingender: Die niederländische Architektur ist natürlich eine Backstein-Architektur. Backstein ist ein Material, das sich extrem gut bewährt hat in unseren Delta-Landschaften. Hier ist es nass, es ist wasserkalt und dieser robuste Baustoff hat die Herausforderungen über Jahre hinweg einfach gut gemeistert. Klinker ist immer präsent: Er gehört zur Landschaft, er gehört zum Bauen, er gehört zur Kultur. Das internationale Image niederländischer Architektur ist nach wie vor vom Stichwort Superdutch geprägt – extravagante Architektur und programmatische Konzepte verbunden mit aufmerksamkeitsstarkem Material. In den Niederlanden sehe ich eine Generation von Architekten, die derzeit den Kontrapunkt erforschen. Wo Superdutch als Materialisierung einer dominanten Entwurfsplanung charakterisiert werden kann, beschäftigen sich diese Architekten zunächst mit der Konzeptionierung eines Materials.
Wie hat sich die Rolle des Baumaterials Klinker in der Geschichte der niederländischen Architektur verändert?
Jan Peter Wingender: In Nachkriegszeiten war Ziegel ein schwieriges Material. Es steckte fest in einer Kontroverse zwischen Tradition und Moderne. In den Niederlanden wurde Klinker lange Zeit als unmodern angesehen. Nur wenige Architekten, wie Aldo van Eyck und Dom Hans van der Laan, erprobten dessen Möglichkeiten. Die Generation nach 1990 griff das Material erneut auf. Jedoch hatte sich dessen Rolle vom umfassenden Baustoff zum fassadenverkleidenden Element gewandelt. In den letzten Jahrzehnten wurden die Möglichkeiten von Klinker als Material der Verkleidung intensiv weiterentwickelt. Ich denke, dabei sind viele inspirierende Beispiele entstanden. Ein weiterer Trend in den Niederlanden, aber auch in der Schweiz und in Deutschland, ist, dass die Fassade immer selbstständiger wird. Dies resultiert aus den zunehmenden Nachhaltigkeitsnormierungen. Damit bekommt die Gebäudehülle eine ganz neue Bedeutung, denn sie wird zu einer freistehenden Fassade. Das ist etwas, was Klinker als einziges Material kann. Das Projekt Freilager in Zürich, das wir momentan mit Hagemeister realisieren, hat ebenfalls eine freistehende Fassade. Alle Balkone sind konstruktiv im Klinkermauerwerk verankert und nicht mehr mit der Hauptkonstruktion verbunden. Ich glaube, das wird ein großer Schritt in der Entwicklung des Klinkerbaus in Nordeuropa sein.
Welche Eigenschaften des Klinkers sind es, die Sie überzeugen?
Jan Peter Wingender: Wir interessieren uns insbesondere für robuste Gebäude, denen der Lauf der Zeit nichts anhaben kann. Dafür ist Klinker optimal geeignet. Weiterhin bietet er vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Er ist Fassadenkonstruktion und Verkleidung gleichzeitig, er ist nachhaltig, er ist schön und er bleibt.
Welche Rolle spielen Klinkerformate und Oberflächen?
Jan Peter Wingender: Das Zusammenspiel von Format, Muster und Oberfläche ist maßgeblich für das Bauen mit Klinker. Wenn wir aus weiter Entfernung einen Baukörper betrachten, so scheint er einen keramischen Charakter zu haben. Sobald man jedoch näher an das Objekt herangeht, erkennt man den Verband und die individuelle Größe der Steine. Bei noch näherer Betrachtung sind auch die unterschiedlichen Nuancen, Variationen und Texturen deutlich zu sehen. Ich kenne nur wenige Materialien, mit denen man so schön spielen kann, die einen so einzigartigen Reichtum bieten und so vielfältig wahrgenommen werden.
Für welche Bauwerke eignet sich Klinker besonders und für welche eignet er sich weniger?
Jan Peter Wingender: Das ist der Bund zwischen holländischer Architektur und Klinker… Wenn es nach uns geht, kann man alle Bauten mit Klinker realisieren. Für mich gibt es kein typologisches oder programmatisches Limit. Bei temporären Gebäuden kann der Gebrauch von Ziegel eine grundsätzliche Herausforderung darstellen. Aber ich denke, für Gebäude, die nachhaltig und dauerhaft sein sollen, ist Klinker die optimale Wahl.
Welches Klinkerbauwerk hat für Sie herausragende Bedeutung?
Jan Peter Wingender: Es gibt eine Reihe an Klinkerbauwerken, die einen tiefgreifenden Einfluss auf mich ausüben. Die Palette reicht von den anonymen georgianischen und viktorianischen Wohnhäusern in UK bis hin zur Architektur des Niederländers Berlage. Auch der norddeutsche Expressionismus mit dem Chilehaus und zahlreichen Bauten in Hamburg und Bremen ist sehr inspirierend. Ganz besonders schätze ich die fantastischen Arbeiten von Hans Döllgast in München. Er hat gezeigt, wie man mit einem Material ein ganz bestimmtes Vokabular in der Architektur entwickeln kann. Die Geschichte ist voll mit tollen Beispielen. Jeden Tag begegne ich neuen Entwürfen und Bauten, die mich überraschen und inspirieren.
Was macht die Besonderheit des Klinkerwerkes Hagemeister und seiner Produkte aus?
Jan Peter Wingender: Die heutigen Produktionsanlagen ermöglichen uns, projektspezifische Klinkersortierungen zu fertigen. Hagemeister bietet ein breites Spektrum an qualitativ hochwertigen Klinkerprodukten. Es ist eines der Werke, die den Klinker auf Kundenwunsch speziell herstellen können. Die Tatsache mit einem Hersteller so eng zusammenarbeiten zu können, empfinde ich immer als besonders interessant. Gemeinsam findet man Lösungen, die man alleine nie gefunden hätte. Mit Hagemeister waren wir in der Lage, Vorstellungen für die Fassaden der Geschäfte und Apartments in Utrecht, der Elderly Homes in Middelburg und der Apartmentgebäude im Freilager Zürich umzusetzen. Nicht nur als produzierender Partner, sondern auch als kreativer Kopf war Hagemeister ein wichtiger Unterstützer in der Realisierung dieser Projekte.
Sie haben ein Buch über Backstein als Verkleidungsmaterial verfasst, das in Kürze erscheinen wird. Worum geht es in diesem Buch konkret?
Jan Peter Wingender: Das Buch ist aus einem Lehrauftrag hervorgegangen, den ich an der Amsterdamer Akademie für Baukunst erhalten habe. Ich habe vorgeschlagen, das Thema Backstein als Verkleidungsmaterial zu analysieren, zu dokumentieren und auch fundamental zu hinterfragen. Das Buch ist in Kooperation mit einer Gruppe von Studenten und Architektenkollegen entstanden. Wir haben eine Serie von Gebäuden vorgestellt und reflektieren städtebauliche, architektonische und theoretische Aspekte wie Tektoniken. Das Buch beantwortet auch ganz praktische Fragen wie die Lösung einer Dehnungsfuge oder die Möglichkeiten von Verbänden. Es ist kein Fotobuch, sondern vielmehr wie ein Lehrbuch für Architekten und Studenten, die sich mit dem Material Klinker auseinandersetzen möchten.
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