Dieser Essay ist als Beitrag zu dem Projekt An Exacting Material: Tectonics in Contemporary Brick Architecture an der Academie voor Bouwkunst Amsterdam entstanden.
In einem niederländischen Wörterbuch der Architektur aus 2005 wird Backsteinarchitektur definiert als „Architektur, die Backstein konstruktiv verwendet, als ein Stapelmaterial mit kleinen Maßen. Der Backstein erfüllt eine lasttragende Funktion, und ist daher nicht bloße Füllung oder Bekleidung“
Die Bezeichnung Backsteinarchitektur bei zeitgenössischen Gebäuden bezieht sich in der Regel auf die Verwendung von Backstein genau als Bekleidung oder Füllung. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich das zitierte Wörterbuch insbesondere auf die Architektur vor 1900 bezieht, und dass seine Autoren sich mit der Konservierung und Restaurierung des niederländischen architektonischen Kulturguts beschäftigen.
Tektonik: Karl Bötticher versus Gottfried Semper
Bevor wir zur Bedeutung der Tektonik in der zeitgenössischen Backsteinarchitektur kommen, möchte ich zunächst die Bedeutung des Begriffs Tektonik rekapitulieren. Ich werde dies anhand der Theorien von Karl Bötticher und Gottfried Semper tun, den beiden wichtigsten Protagonisten der ursprünglichen Tektonikdebatte im 19. Jahrhundert. Beide hatten ähnliche Auffassungen über die hellenische Architektur und sogar Sempers Verwendung des Begriffs Tektonik scheint Bötticher verpflichtet zu sein.
Wesentlich für meine Darlegung hier ist jedoch ein Unterschied, den Wolfgang Herrmann (Kunsthistoriker) erläutert. Er betrifft die Bedeutung, die dem Material als formenden Faktor bei dem Werden von künstlerischen Formen zugewiesen wird. Für Semper hat das Material eine entscheidende Bedeutung, für Bötticher nicht. Wenn Semper den Einfluss des Materials auf die Entstehung von Form begrifflich zu fassen versucht, dann erwägt er auch die Werkzeuge und Prozeduren, die im Herstellungsprozess der künstlerischen Form zur Anwendung kamen. Auf Grund der unterschiedlichen Bedeutung, die dem Material als formbeeinflussenden Faktor zugewiesen wird, werde ich Bötticher und Semper als Repräsentanten der zu unterscheidenden tektonischen Positionen – der Tektonik des Lastragens und der Tektonik der Bekleidung– besprechen.
Von der Tektonik zur Backsteintektonik
Beide, Böttichers und Sempers, Darlegungen zur Tektonik waren eigentlich Diskurse über Ornamentik. In Böttichers Tektonik des Lasttragens ist die ornamentale Kunstform eine ideelle Repräsentation des Wirkens der statischen Kräfte in den physischen Gebäudeteilen, die von dieser Ornamentik bekleidet werden. In Sempers Tektonik der Bekleidung referiert das ornamentale Kleid an die formalen Prinzipien, die durch die Herstellung der Bekleidung selbst impliziert werden.
Backsteintektonik des Lasttragens
Eine Backsteinfassade gemäß der Tektonik des Lasttragens wird strukturiert durch das zum Ausdruck bringen von Decken und Wänden, von Pfosten (Pfeilern) und Stürzen oder Bogenkonstruktionen, und von stützenden und gestützten Gebäudeteilen.
Backsteintektonik der Bekleidung
Die Backsteintektonik der Bekleidung entwickelt die Artikulation der Fassade aus dem konstruiert werden der Bekleidung selbst. Sie realisiert ihr ästhetisches Konzept durch das technisch notwendige Verbinden und Fügen der Backsteine. Die Backsteintektonik der Bekleidung erkundet die Herstellung von dekorativen Mustern mit kleinerem und größerem Maßstab. Zu diesem Zweck können die Backsteine in nahezu alle denkbaren Richtungen gestapelt werden. Der Effekt von dekorativen Mustern wird durch die Anwendung von Backsteinen unterschiedlicher Größe, Sorte und Farbe, und die wohl überlegte Verwendung von Relief verstärkt.
Die Tektonik des Lasttragens und die Tektonik der Bekleidung heute
Beide, die Tektonik des Lasttragens und die Tektonik der Bekleidung befassen sich mit der Erscheinung eines Bauwerks in Bezug zu seiner Konstruktion. Die Tektonik des Lasttragens beschäftigt sich mit der Erscheinung des Bauwerks in Bezug auf die lasttragende Konstruktion; die Tektonik der Bekleidung beschäftigt sich mit der Erscheinung des Bauwerks in Bezug auf die Konstruktion der Bekleidung selbst.
Die Tektonik des Lasttragens bezieht sich auf klassische Elemente der Architektur, die einen mittleren Maßstab schon beinhalten. Für die Tektonik der Bekleidung muss dieser mittlere Maßstab erst entwickelt werden. Vielleicht ist es auch das Erbe des Modernismus mit seiner Tradition rationeller Schlussfolgerung, das die Tektonik des Lasttragens attraktiver erscheinen lässt als die Tektonik der Bekleidung, die sich an dekorativen Mustern erfreuen kann, die nicht unbedingt rational begründet werden können.
Es scheint auf jeden Fall ein großes, noch unerschöpftes Potential für die Tektonik der Bekleidung zu geben. Wenn die Architekten, die nicht notwendigerweise der Tektonik des Lasttragens anhängen, den Wirkungszusammenhang von Konstruktion und Erscheinung mit genauso viel Energie und Erfolg ergründen würden wie ihre hier vermeintlichen Widersacher, dann könnten wir uns auf eine lebhafte Diversifizierung der Kultur der Backsteintektonik freuen.
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