In welchem Verhältnis stehen Ästhetik und Nachhaltigkeit in der Architektur? Ist ein luftdicht verpacktes Energiesparhaus schon nachhaltig? Inwiefern fließen ästhetische Überlegungen in die Gebäudezertifizierung des Deutschen Gütesiegels Nachhaltiges Bauen (DGNB) ein? Diese Fragen haben internationale Referenten wie Sergey Skuratov aus Moskau, Friedrich Wolters aus Coesfeld, Peter Böhm aus Köln und Prof. Dr.-Ing. Thomas Stark aus Konstanz beim Hagemeister Klinkerseminar 2014 in Nottuln an zwei Tagen mit 500 Architekten diskutiert und aus technischen, ästhetischen, energetischen und historischen Blickwinkeln beleuchtet.
„Als Ziegler wollen wir ästhetisches und nachhaltiges Bauen fördern“, schlägt Dr. Christina Hagemeister, Geschäftsführerin des Klinkerwerkes Hagemeister, den Bogen zwischen Ästhetik und Nachhaltigkeit in der Klinkerarchitektur und lädt im Nottulner Ziegelwerk zum Diskurs über die brandaktuelle Nachhaltigkeitsthematik ein.
Sergey Skuratov: Klinker überzeugt
Dass Ziegelbauten in Russland längst Tradition haben und Klinker auch in der modernen Moskauer Architektur eine feste Größe ist, dafür hat Sergey Skuratov, Inhaber von Sergey Skuratov Architects in Moskau, überzeugende Beispiele: Die historischen Vorbilder Moskauer Kreml und Basilius-Kathedrale sind weltbekannt. Skuratovs moderne Klinkerbauten wie der Wohnkomplex „Roter Oktober“ mit zerklüfteter Fassade, das Wohn- und Geschäftsgebäude mit texturierter Klinkerfassade an der Burdenko Street und das im Bau befindliche Gartenviertel auf einem 14 ha großen ehemaligen Fabrikgelände mitten in Moskau beeindrucken durch ihre riesigen Dimensionen ebenso wie die skulpturale Kraft und Konsequenz des Entwurfs. Für den russischen Architekten ist die Nachhaltigkeit des gebrannten Tons unbestritten. Die Langlebigkeit von Klinker, seine technischen Eigenschaften wie Druckfestigkeit und seine geringe Wasseraufnahme, der Facettenreichtum, mit dem sich raue ebenso wie glatte Oberflächen gestalten lassen, machen für ihn die Nachhaltigkeit des Klinkers aus. Skuratov ist überzeugt: „Wenn ein Bauherr einmal mit Klinker gebaut hat, braucht man ihn nicht mehr von diesem Baumaterial zu überzeugen. Dann überzeugt der Klinker selbst, mit dem sich Gebäude wie Skulpturen erstellen lassen – mit Decken, Laibungen und allen Details.“
Friedrich Wolters: nachwirkende Adresswirkung
Von dieser Selbstverständlichkeit und Großzügigkeit im Umgang mit Klinker können deutsche Architekten oft nur träumen. „Energetische Sanierung mit Klinker ist aufgrund der Kosten oft schwierig zu realisieren“, weiß Friedrich Wolters, Inhaber des Architektur- und Planungsbüros WoltersPartner in Coesfeld, aus langjähriger Erfahrung als Architekt und Beirat für Stadtgestaltung in Münster. Die hohe Beständigkeit des Klinkers, die Einbettung in seine landschaftliche Umgebung und seine natürliche Wärme sind für Wolters wesentliche Bestandteile der Nachhaltigkeit. Für dieses Baumaterial setzt er sich bei seiner regionalen Architektur von Wohngebäuden ebenso ein wie beim Bau eines Baumarktes und eines Modehauses in Coesfeld sowie bei der Landesmusikakademie Heek .
Für Wolters sind eine straffe Förderung und der qualitative Anspruch von Architekten Wege, um dem Klinker zur Durchsetzung als nachhaltiges Baumaterial zu verhelfen. Dazu nimmt er die Architekten in die Pflicht: „Man muss Bauherren auf die lang anhaltende, nachwirkende Adresswirkung hinweisen, damit wir von den Mumienfassaden in unseren Städten wegkommen.“
Peter Böhm: zwischen Materialien vermitteln
Wie vielseitig der Ziegel als Baumaterial wirken kann, verdeutlicht Peter Böhm, Inhaber von Peter Böhm Architekten in Köln, am Beispiel des renovierten und um einen Gebäuderiegel ergänzten Philosophikums am Domplatz in Münster: Eine geschlämmte Ziegelfassade vermittelt zwischen dem Naturstein und anderen Materialien der Nachbargebäude. Im Innenraum verbirgt eine Wand aus kopfvermauerten Ziegeln mit senkrecht ausgekratzten Fugen die Akustikelemente der Bibliothek.
Als „moderne Altstadt“ aus individuellen Häusern hat Böhm das Areal der alten Chronos Fabrik im Zentrum Hennefs realisiert. Dabei ist Klinker das verbindende Element der 46 Häuser und Wohnungen, die mit hohem energetischem Anspruch realisiert wurden. „Unsere Städte brauchen die Massivität und raumbildende Wirkung des steinernen Baustoffs, der auch nach Jahren schön altert“, begründet Böhm seine Materialwahl.
Prof. Dr.-Ing. Thomas Stark: nachhaltiges Bauen mit Klinker
Wie drängend die Forderung nach nachhaltiger Bauweise ist, macht Prof. Dr.-Ing. Thomas Stark, Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) deutlich: Laut EU-Vorgabe ist der Null-Energie-Standard für öffentliche Gebäude ab 2019, für alle übrigen Gebäude ab 2021 vorgeschrieben. Langfristiges Ziel ist darüber hinaus im Sinne von Plusenergiehäusern, dass Gebäude in ihrem direkten räumlichen Zusammenhang mehr Energie produzieren als verbrauchen. Dass diese Standards mit einer sehr guten Gebäudehülle aus einer zweischaligen Klinkerfassade mit 24 cm Dämmdicke zu erreichen sind, verdeutlicht das Beispiel der Elbarkaden in der HafenCity Hamburg.
Und auch bei der Zertifizierung mit dem Deutschen Gütesiegel Nachhaltiges Bauen (DGNB) kann der Klinker punkten: In die Bewertung der ökologischen Qualität fließen gebäudebezogene Kosten im Lebenszyklus ein, in die soziokulturelle und funktionale Qualität unter anderem visueller Komfort und Außenraumqualitäten sowie Reinigungs- und Instandhaltungsfreundlichkeit des Baukörpers unter technischen Gesichtspunkten. Dieser Blick in die Zertifizierungssystematik zu nachhaltigem Bauen verdeutlicht die nachhaltigen Qualitäten des Klinkers und dass auch Ästhetik ein wichtiges Kriterium ist.
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